Myriam Van Belleghem

←zurück nach Erlebnisberichte zu pALS

Im August 2002 fingen wir an mit der Aufzeichnung dieser Geschichte. Mama erzählte, ich schrieb auf. Ich lernte sehr viel, denn nicht nur das Hier und Jetzt wurde berücksichtigt, Mama verwies auch nach früheren Zeiten : ihre Kinder- und Jugendjahre, den Krieg, die Bekanntschaft mit Papa, den Umzug nach Limburg, die Erziehung von vier Söhnen, ihre Engagements. Die Verknüpfung mit dem jetzt blieb bestehen, noch am meisten in den Gedanken über die Enkelkinder laut Schwiegertochter Lieve. Gleichzeitig war Mamas Krankheit - das Thema hiesiger Geschichte - allgegenwärtig. Wir verbrachten zusammen etliche Stunden hinter dem Rechner. Wir fingen an mit dem Gefühl von “wir haben ausreichend Zeit”, während wir beide uns sehr gut davon bewusst waren, dass die Zeit immer mehr davon lief. Ab 6. Oktober 2002 - am Sonntag an dem Mama erzählte sie empfinde Schwierigkeiten beim sprechen - gab es eine neue Wirklichkeit : es ist Zeit.....Unser Verhältnis änderte sich. Ein paar Momente blieben in meiner Erinnerung geätzt. Das erste Mal, dass Mama beim Erzählen anfing zu weinen, hat mich enorm beeinflusst. Es ebnete den Weg zu Fragen wie “Hast Du Angst?”. Anfänglich gab es wenig Struktur bei der Arbeit. “Sagen Sie mir”, wiederholte ich immer wieder, “wir werden sehen wohin das ganze uns bringt”. Danach erfolgten die Fragen : hinsichtlich Fakten und Gedanken, Wahrheiten und Gefühle, Freude und Schmerzen. 

Eine unvollendete Geschichte, hoffentlich bleibt das so!

Das erste Mal bin ich gestürzt beim Wäsche aufhängen, erzählt Myriam. Niemand hat das ernst genommen. In ‘94 bin ich nochmal zu Boden gegangen, ich konnte aber gut wieder aufstehen, ganz schnell ehe jemand dabei war. Zuhause wurde mir gesagt : “solltest du nicht besser die Schuhe wechseln?”. “Gähne weniger herum”! Ich habe verschiedene Schuhe getragen, aber es passierte nochmal. Meine Knie waren offen, es hat lange gedauert bis es geheilt war, es enthielt Schmutz von der Straße. 

Danach fingen die Untersuchungen an. Auf dem EEG war nichts zu sehen, der Scan erwies sich als negativ. Es gab also nichts, Leute lachen mit deinen Beschwerden. Letztendlich ging ich zum Physiotherapeuten, es wurde immer schlimmer. Ich  wurde es satt, und habe mich selber auf der Suche gemacht. Ein weiterer Arzt machte ein EMG, auf dem etwas ersichtlich war : Lähmungsphänomene, es sollte operiert werden. Infolge der Operation am Rücken wurde es kurze Zeit besser, ich konnte besser schreiten, den Nerv bis zum großen Zeh hat sich jedoch nie erholt. Aber dann hat es wieder angefangen, ein Arzt fragte : hast du je etwas fallen lassen, empfindest du Probleme beim Schlucken? Und dies war tatsächlich der Fall, ich dachte schon dass ich meiner Mutter hinterher ging, die war 80 geworden und ließ auch Sachen fallen. 

Es erfolgte eine 3-tägige Beobachtung im Krankenhaus, wirklich alles wurde untersucht und es wurde etwas entdeckt. Die Neurologin benachrichtigte uns sie erwähnte ALS : eine Degradierung der Nervenzellen im Rückenmark. Die Lähmung wird immer schlimmer werden. Das schreiten, schlucken, sprechen, spüren.... alles geht rückwärts. Sie schlug ein Termin über ein Jahr vor, weil es schnell zu vergehen schien. Panik überall, bei meinem Ehemann, den Kindern, aber nicht bei mir. Ich habe gedacht : “nicht mit mir, ich halte es zurück. Das tue ich jetzt schon seit 3 Jahren, Der Arzt empfahl : bewege so viel wie nur möglich, dann kannst du es auch verzögern. Sonst übernimmt die Krankheit dich, es muss umgekehrt sein. Ich halte durch, teilweise dank den Medikamenten und dem aktiv bleiben - meist mit dem Rad fahren - verläuft der Krankheitsprozess bei mir langsamer als erwartet. Es bleibt mir also mehr Zeit übrig, Zeit zum Nachdenken...

Verschlechtert es sich immer noch?

Wenn etwas passiert - z.B. falls der Fuß beim Radfahren neben dem Pedal schießt, wenn ich (fast) Stürze - dann merke ich es wohl. Ich fühle auch schneller meine müden Beine, zuerst konnte ich noch 40 Km Radfahren, jetzt noch ungefähr 20, dann ist Schluss. Mein Mann ist sehr gut darin, er geht nicht weiter als ich kann, messt es genau aus, nachdem wir 10 Km vollbracht haben, dreht er um. Wenn ich mich anstrenge bekomme ich Probleme beim Sprechen, du musst dann mehr nach Luft schnappen. Beim Radfahren am Freitag war dies tatsächlich so, nach einer Weile empfand ich Schwierigkeiten beim Sprechen, während wir unser übliches Tempo fuhren - 14 bis 15 Stundenkilometern - und es keinen Wind gab. Daheim hatte ich dies noch nie. Ich werde mir meines Problems bewusster, versuche einiges zu vermeiden. z.B. nicht mehr mit dem Rad fahren auf den regulären Radwegen, dort fährt man viel zu leichtsinnig. Auch die Gehweite wird mir immer kürzer, ich kann nicht mehr ins Zentrum meines Dorfes gelangen. Beim Spazieren werden meine Beine müde, keine wirkliche Schmerzen, sondern etwas nagendes. Wenn das Wetter nicht so schlecht ist, kann ich noch einigermaßen selbständig sein, falls es jedoch regnet habe ich alles verloren, denn dann kann ich nicht mit dem Fahrrad fahren, dies ist außerdem mein einziges Resort um mich zu bewegen. Ein Auto fahren gelingt mir nicht mehr, da ich kein Gefühl mehr habe in meinem Bein. 

Auch bei der Arbeit im Garten merke ich es, beim letzten Mal habe ich mich mit der Astschere gezwungen, es hinterließ einen großen blauen Fleck. Auch mein kleiner Finger will nicht mehr kommen. Im Garten arbeiten wird eigentlich elend, die Zirkulation in den Beinen will nicht mehr kommen. Ich gehe nur auf Klumpfuß. Der Bürgersteig ist auch sehr uneben, das wird dann zur Folter, von einer Seite zur anderen bewegen. Oder noch jäten, dann ziehe ich manchmal die Pflanzen, damals flogen die da raus, aber nun bewegen sie sich nicht, trotz der von mir gelieferten Anstrengung. Meine Hände bleiben taub, überhaupt keine Macht. 

Die Kraft in meinen Händen nimmt tatsächlich ab. Gestern bekam ich Pflaumen, damals konnte ich 5 davon gleichzeitig festhalten, nun nicht mehr. Wringen kann ich schon lange nicht mehr. Ich muss ausdrücken, dies geschieht jetzt mit 2 Fingern, oder ich muss es mit beiden Händen machen, was mir noch gelingt. Ich fange an, ein bisschen Angst zu bekommen, wenn ich später die Bremsen meines Fahrrads nicht mehr schließen kann, dann kann ich auch nicht mehr Rad fahren, die Fußbremse verweigert schon seit langem jeglichen Dienst. 

Drinnen kann ich noch einiges selber machen. Die Küche und das Badezimmer sauber halten, das gelingt mir noch. Um das Wischen kümmert sich mein Ehemann. Fenster mit einem Stock waschen funktioniert noch. Ich krieche nicht mehr auf einer Leiter, das wird zu riskant. Ich kann kaum hinaufsteigen, und vielleicht komme ich nie wieder hinab. Einen Schrank ausräumen kann ich nur noch, falls er sich auf gleicher Höhe wie mich befindet, ich kann nicht mehr auf den Knien, und keine Treppen mehr hinauf, höchstens eins bis zwei Schritte, wenn ich mich dabei festhalten kann, es verschwindet vieles allmählich. Ich bügele im Sitzen, sonst “sinkt” alles in meinem Bein. Ich bin wie eine Sanduhr, ich sollte mich umdrehen können. 

Das Kochen geht noch, aber das Gefühl in den Händen verschwindet. Damals nahm ich das Salz mit den Fingern, das Gefühl fehlt komplett. Mit einem Schläger etwas aufpeitschen geht nicht. Einen Kuchen backen wie damals kann ich nicht mehr. Du sollst luftig klopfen “groß” aufpeitschen, das ist vorbei. Einige Kochtöpfe meistere ich nicht mehr, die schwarze “Kasserolle” kriege ich nicht mehr hoch. Beim schlucken spüre ich es ebenfalls, bestimmtes bekomme ich nicht mehr durch den Hals. Ein Sandwich bleibt in meiner Kehle stecken wie ein Ball. Falls es etwas länger dauert, wird es schwieriger, die Muskeln werden müde, Ich muss mein Fleisch immer kleiner schneiden. Wenn ich inzwischen auch noch spreche, geht überhaupt nichts mehr. 

Was ich immer noch gerne mache, ist lesen, besonders philosophische Bücher, das schlage ich nach. Ein gewöhnlicher Roman bedeutet mir nicht mehr viel. z.B. über den Islam, wie das ist, viel über Religion, was ist eigentlich wahr. Fernsehen bedeutet mir nicht mehr viel, oder es sollte sich um eine Talkshow handeln - wie “am Tisch” z.B. das habe ich immer verfolgt. Es gab sehr gute Interviews. Soaps werde ich mich nie anschauen, und falls die Nachrichten zu lange dauern, lasse ich sie fallen. 

Ich bin nochmal gestürzt, aber jetzt ist es ernst, beim herabsteigen eines Schemels, bin ich durch die Beine gesackt. Ich wurde buchstäblich in die Ecke geworfen, stößte dabei gegen ein Gestell. Ich dachte dass mein Rücken in zwei Teile gebrochen war. Schreckliche Schmerzen, mein Atem stockte und ich habe gekotzt. Mir fehlte eine Stimme zum Rufen. Ich bin eine Weile sitzengeblieben und hätte fast geweint, nicht vor Schmerzen sondern vor lauter Elend. Ich dachte mir : ist das Altern jetzt so, immer wie eine Stoffpuppe zu Boden geworfen werden. 

 

Übersetzung: Eric Kisbulck

Quelle: Newsletter 120 - Februar, März, April 2003

Share