Johan Coulembier hat das Wort

←zurück nach Erlebnisberichte zu pALS

Ich heiße Johan Coulembier und wurde 1951 in Ypern (Ieper) als fünftes von sechs Kindern geboren. Wir waren eine glückliche Familie mit geachteten Eltern. Mein Vater war stark sozial engagiert. Seinen Lieblingsspruch haben wir nicht vergessen: „Mach still und ruhig weiter!“

Ich habe eine schöne Jugend gehabt und war in Jugendorganisationen aktiv, vor allem aber habe ich mich viel mit Musikausbildung beschäftigt.

1973 habe ich in Ostende das Examen als Ingenieur abgelegt. Bereits am Tag danach begann ich bei der Firma Picanol zu arbeiten, die damals der größte Arbeitgeber in der Region war (und auch heute noch ist).

1974 habe ich geheiratet. Aus der Ehe gingen drei prächtige Söhne hervor. In diesen Jahren waren wir vielbeschäftigt, an erster Stelle natürlich mit der Erziehung unserer Kinder. Meine Frau war Sportlehrerin und trainierte daneben auch die Eliteturnerinnen des örtlichen Sportvereins. Ich selbst arbeitete Vollzeit bei Picanol und meine musikalischen Ambitionen hatten mich in die Welt der Chöre geführt. Neben meiner Tätigkeit als Sänger und Gelegenheitsdirigent leitete ich seit 1969 auch meine eigene Gesangs- und Orchestergruppe „Chorus“, die auch heute noch aktiv ist, inzwischen allerdings unter jüngerer Leitung.

Im Laufe der Jahre entwickelten die Kinder ihre Talente durch ihre Studien, und - Zufall oder nicht - Technik und Musik waren irgendwie immer dabei. Manchmal begegnet man ihnen zusammen in irgend einem Orchester oder auf einer Musikveranstaltung und manchmal trifft man sie bei einem von ihnen zuhause an, wenn sie Wasser- oder Stromleitungen verlegen oder mit anderen Arbeiten im Hause beschäftigt sind. Die große Verbundenheit der Kinder untereinander, darauf komme ich später nochmals zurück, ist für uns als Eltern eine große Erfüllung. Außerdem habe ich drei prima Schwiegertöchter und inzwischen schon fünf Enkelkinder - darüber bin ich überglücklich!

Inzwischen hatte ich in meinem beruflichen Leben das Glück, innerhalb des Betriebs große Entwicklungen mitmachen zu können. So gab es 1973 beispielsweise noch keine Computer, keine Mobiltelefone, selbst noch keine Kopierer oder Faxgeräte usw., ganz zu schweigen von den (revolutionären) Entwicklungen in der Industrie und im Management, die sich in allen diesen Jahren vollzogen. Somit habe ich an meinem Arbeitsplatz sehr anspruchsvolle und interessante Projekte mitgemacht und konnte dabei enorm viel lernen, Erfahrungen machen und gute Teamarbeit erleben.

Das führte mich im Jahr 2004 nach China. Picanol hatte dort eine Niederlassung, die erweitert werden sollte. Was als eine beschränkte „Unterstützung für fünf Monate“ angekündigt war, entwickelte sich letztendlich zu einem quasi durchgehenden Aufenthalt von knapp 12 Jahren in China, der erst am 1. Februar dieses Jahres beendet wurde. Das ist etwa sieben Monate früher als geplant, denn ich werde im August 65 Jahre alt. Und jetzt kommen wir zur ALS-Geschichte.

Im Oktober 2014 war ich für einige Wochen in Belgien. In dieser Zeit hatte ich auch häufige Zusammenkünfte mit den Musikgesellschaften, in denen ich früher leitende Funktionen hatte. Während einer solchen Sitzung bemerkte ich bei mir selbst, dass ich irgendwie mit „dicker Zunge“ sprach. Zwar hatte ich ein Bierchen getrunken, aber ich war keinesfalls angetrunken oder betrunken, auch wenn andere das vielleicht gedacht haben könnten.

Weil dieses Phänomen in den folgenden Monaten öfter und ausgesprochener auftrat, fragte ich im November meinen Hausarzt danach. Ich ging seit Jahren etwa drei- bis viermal jährlich zu Routineuntersuchungen, u.a. Blutdruckkontrollen, zu ihm. Er verwies mich zuerst an einen Hals-Nasen-Ohrenarzt und dann an einen Neurologen. Danach wurden verschiedene Hirn-Scans und allerhand Tests (Herz, Lungen usw.) ausgeführt. Die gute Nachricht war, dass für mein Alter nichts Besorgniserregendes gefunden wurde. Doch inzwischen hatten sich die Sprechprobleme allmählich verstärkt und auch beim Essen hatte ich Probleme. Kauen und schlucken wurde schwieriger, ich musste meine Essgewohnheiten anpassen, alles in allem war das noch machbar. Die Diagnose „Dysarthrie“ wurde gestellt. Aber was war die Ursache des Problems?

Kalte Dusche

Ende Juni 2015 bekam ich dann die endgültige Diagnose: ALS mit bulbären Symptomen. Von Lateralsklerose hatte ich schon gehört, unter anderem durch die „Ice Bucket Challenge“, doch durch die Informationen aus dem Internet, bekam ich eine virtuelle Dusche, die noch viel kälter war. Seltsamerweise geriet ich dadurch nicht in Panik und hatte auch keine schlaflosen Nächte. Meine Einstellung war und ist eigentlich noch immer wie folgt: „Was getan werden muss, wird getan, allerdings unter Berücksichtigung möglicher Probleme in der Zukunft. Wir sehen schon, was kommt.“ Mit Hilfe des Hausarztes und des Neurologen sind inzwischen die notwendigen Anträge an die Flämische Agentur für Behinderte (VAPH) geschickt.

Gemeinsam mit meinem Arbeitgeber haben wir einen Ablaufplan erarbeitet, um meine Tätigkeiten in China beschleunigt auslaufen zu lassen. Dieser Plan musste für die Firma durchführbar sein und mir selbst das Gefühl geben, alle Aufgaben ordentlich abschließen und übertragen zu können. Ich hätte im vorigen Sommer sofort stoppen können, mein Arbeitgeber hätte dafür Verständnis gehabt, aber für mich hätte sich das als unvollständig, unabgeschlossen angefühlt, ich wäre in ein schwarzes Loch gefallen. Diese letzten Monate waren natürlich schwer für mich (allein die Reise nach China dauert nämlich schon 24 Stunden), doch dieser Abschluss gibt mir ein Gefühl der Zufriedenheit.

Im vergangenen halben Jahr habe ich probiert, so gut wie möglich mit der Behinderung zu leben. Spezifische Logopädie, die mehr ist als Sprechübungen, bei der ich z.B. auch Anleitungen für das Schlucken bekommen habe. Ich hatte das Glück, eine Logopädin zu finden, die Erfahrung mit diesen spezifischen Problemen hat - und eigentlich war sie auch diejenige, die mich mit der ALS Liga in Kontakt gebracht hat.

Meine letzte Reise nach China dauerte vom 15. Januar bis zum 2. Februar. Diese Reise war ein außerordentliches Erlebnis für mich, denn meine drei Söhne hatten vorgeschlagen, mitzukommen und dafür speziell Urlaub zu nehmen. Dass auch ihre Ehefrauen damit einverstanden waren, also gut zwei Wochen allein zuhause für alles gesorgt haben, war einfach phantastisch. Meine Aufgabe war es, zum letzten Mal zu prüfen, ob im Betrieb in China nach der Neuorientierung und der Übertragung meiner Funktionen alles wie geplant verläuft. Außerdem haben wir auch die Wohnung geräumt, in der ich dort zehn Jahre gewohnt hatte, und von vielen Kollegen und Freunden Abschied genommen. Im Nachhinein begreife ich, dass ich das alles nicht ohne die Hilfe meiner Söhne geschafft hätte, und zwar körperlich (ich habe viel Kraft verloren, bin schnell außer Atem usw.) wie auch emotional. Für sie war das natürlich auch ein außerordentliches Erlebnis. Wenn wir später einmal über meinen Aufenthalt in China sprechen, werden sie sich alles sehr gut vorstellen können.

Jetzt stehe ich also vor einem neuen Lebensabschnitt, ich würde dies als „Wiedereinbürgerung“ in Belgien bezeichnen. Seit 2009 habe ich ein kleines Neubauappartement in Ypern (Ieper), in dem ich alleine wohne, denn meine Frau und ich hatten im Jahr 2006 beschlossen, unsere Ehe zu beenden. Wir hatten keinen Streit, wir haben uns einfach auseinander gelebt. Mein Aufenthalt in China hatte damit eigentlich nichts zu tun. Wir haben noch immer gute freundschaftliche Beziehungen und natürlich sind unsere Kinder und Enkel ein starkes Bindemittel. Als Beispiel dafür möchte ich erwähnen, dass wir am Weihnachtsabend noch stets alle zusammen im elterlichen Haus feiern.

Nicht klein zu kriegen

Ich lebe also allein, daran war ich in China jahrelang gewöhnt, aber ich fühle mich keinesfalls einsam. Dass ich auf meine Familienangehörigen (einschließlich meiner Ex-Ehefrau) rechnen kann, konnten Sie bereits lesen, aber ich habe auch noch zwei Brüder und zwei Schwestern, die ganz in der Nähe wohnen. Darüber hinaus habe ich mir im Laufe der Jahre offensichtlich einen großen Freundeskreis aufgebaut, zum Teil über die Firma, zum Teil über die Chortätigkeit usw. Ich stelle fest, dass die Hilfe, die ich erhalte, beeindruckend ist.

Wie ich bereits ausgeführt habe, was getan werden muss, wird getan und ich lass mich nicht unterkriegen. Mir gefällt es, selbst mit geeigneten Mahlzeiten zu experimentieren und weiterhin an sozialen Aktivitäten teilzunehmen. Essen im Restaurant wird wohl weniger stattfinden, aber das ist eigentlich kein Problem, denn es gibt genug Alternativen. Aber ich habe auch schon festgestellt, dass Restaurants, wenn sie vorab informiert werden, auch für mich einnehmbare, leckere Mahlzeiten zubereiten können. In gewissem Sinne bereitet es mir auch ein bisschen Vergnügen zu untersuchen, wie ich für mich Essen mit gutem Geschmack zubereiten kann.

Ich hoffe, noch lange für mich selbst sorgen zu können. Doch ich bin auch darauf vorbereitet, dass es einmal nicht mehr gehen wird. Mit Hilfe des Schreibens (die betreffenden Funktionen sind noch nicht beeinträchtigt, urteilen Sie selbst), probiere ich inzwischen mit der Firma, Vereinen, Angehörigen und Freunden in Kontakt zu bleiben, um überall, wo es möglich ist, noch nützlich zu sein und meine umfangreichen Erfahrungen so vielfältig wie möglich zu teilen. 

Share