Interview mit Nora Tilley

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Originaltext geschrieben von FRIEDA JORIS • Erschienen in HET LAATSTE NIEUWS

Nora Tilley„Im Oktober letzten Jahres musste ich für den Werbefilm von ‚De Collega‘s 2.0‘ mit einem Karton in der Hand zügig gehen. Das fiel mir schwer, meine Beine wollten nicht mitmachen. „Es sei bestimmt mein medizinisch falsch behandeltes Knie oder mein schmerzender Rücken, dachte ich damals noch. Wäre es nur das gewesen.“ Schauspielerin Nora Tilley (66) lacht ein wenig. Heute, zehn Monate später, kennt sie ihr Urteil. Nora hat ALS oder Amyotrophe Lateralsklerose, eine tödliche neurologische Krankheit, die fast alle Muskeln angreift. Die Ursache ist unbekannt und eine Behandlung ist nicht möglich. „Ich habe die Wahl. Entweder wird es schrecklich und unmenschlich für mich und für alle um mich herum, oder ich mache eine warme, schöne Zeit aus der Zeit, die mir noch bleibt. Ich habe gewählt.“

„Das erste Mal, dass sich die Krankheit manifestierte, muss ein Jahr her sein“, sagt Nora Tilley und stellt ihre Kaffeetasse mit einigen Schwierigkeiten auf die Untertasse. „Beim Spazieren redete ich mit meinen Freunden und plötzlich, patsch, lag ich auf dem Boden. Ich dachte, ich hätte gestolpert, obschon es nichts gab, worüber ich hätte stolpern können. Also war ich einfach auf die Knie gegangen. Ab diesem Zeitpunkt fühlte ich mich unsicher und fühlte es, als ob ich jederzeit stürzen könnte. Ich war bei jedem Schritt, den ich machte, besonders vorsichtig und bin nicht mehr gefallen.

Ich nahm mir Zeit, bewegte mich langsam und machte mir keine Sorgen. Bei der Aufnahme des Werbefilms von ‚De Collega‘s 2.0‘ machte ich mir etwas mehr Sorgen. Ich musste schnell durch einen Korridor gehen, aber ich konnte kein Tempo machen, es gelang mir einfach nicht. Erst als mein Schwager, der Osteopath ist, sagte: „Nora, du gehst so merkwürdig“, ging ich zum Arzt. Zuerst ging ich zum Augenarzt, weil ich glaubte, dass ich mit einer Brille besser sehen würde, wo ich gehe“. 

In Dezember endete ich letztendlich beim Neurologen. Ohne Ergebnis, denn die Symptome waren noch nicht so ausgeprägt, dass sie als ALS erkannt werden konnten. Er schickte mich zu einem Neurochirurgen, und dort wurde schnell klar, dass meine Beschwerden nicht mit meinem Rücken zu tun hatten. Seitdem wurde ich von einer Reihe von Ärzten völlig untersucht. Der ALS-Diagnose geht ja ein langer Eliminierungsprozess voraus. Nach all diesen Tests hat sich herausgestellt, dass ich so gesund wie ein Fisch im Wasser sei. Grund zum Optimismus? Keineswegs. Meine Intuition sagte mir: Dies ist ernsthaft. Zumal da meine Situation sich verschlechterte.

Anfang Februar fing meine linke Hand an, sich merkwürdig zu verhalten und kraftlos zu werden. Beim Töpferkurs, den ich jeden Dienstag besuchte, verlor ich auch den Griff auf den Ton. Ich ließ meine Gabel beim Essen öfters fallen. Auch das Gehen wurde immer schwieriger. Allerdings versuchte ich so ‚üblich‘ wie möglich zu gehen, aber ich bekam immer mehr Bemerkungen. „Was ist denn los? Hast du etwas am Bein?“ Meine Schwester fragte mich noch: „Bist du dir sicher, dass es nichts Psychosomatisches ist? Ist es nicht nur in deinem Kopf?“ „In diesem Fall ist der Ball ganz in meiner Spielhälfte und mit meinem Charakter wird es schnell gelöst sein. Denn etwas das nicht möglich ist, das ist nicht in meinem Wortschatz enthalten“ antwortete ich. Aber laut den Ärzten hatte auch mein Kopf damit nichts zu tun. 

Bald brauchte ich einen Spazierstock: meinen ‚Mister Eagle‘ mit seinem schönen silbernen Adlerkopf. Mich alleine auf den Weg machen wurde gefährlich. Ich hatte schrecklich viel Angst wieder zu stürzen, weil ich dann unmöglich wieder aufstehen könnte. Das hatte ich bereits erlebt.

TSUNAMI DER TRAUER

Viele Monate hatte ich Angst, und ich hatte auch das frustrierende Gefühl, dass ich nicht ernst genommen wurde. Schließlich landete ich in der Universitätsklinik in Löwen und sofort hat der Professor zwei Möglichkeiten vorgeschlagen. Die erste Möglichkeit war, dass die Ursache etwas am Rücken oder am Nacken sei, und in diesem Fall wären zwei Operationen erforderlich, aber sie hielt diese Diagnose für unwahrscheinlich. Die zweite Möglichkeit war eine ganze Erklärung, die sich sehr wissenschaftlich anhörte und von der ich kaum etwas verstanden habe. 

Als der Professor schwieg, fragte ich: „Und was passiert wenn es diese zweite Möglichkeit wäre? Eine Operation? Chemo? Medikamente? „Nein,“ sagte sie. „Falls es die zweite Diagnose wird, so gibt es keine Heilung.“ ‚Ah, das wird also von selbst passieren denn“ glaubte ich. „Nein.“ „Sollte ich denn immer so herumquälen bleiben?“ „Nein, es wird noch schlimmer werden.“ „Ist es tödlich?“ „Ja.“ Bei ALS versagen die motorischen Nervenzellen, die die Muskeln kontrollieren. Schließlich werden auch die Atemmuskeln betroffen, was zum Tod führt. Dieses Schreckensbild war ihre vorläufige Diagnose, aber es wurde erst nach einer Reihe von neuen Untersuchungen wie einer Szintigrafie und einer Rückenmarkspunktion Sicherheit geben.

Im Auto sahen mein Mann Jean-Pierre und ich uns an und sagten: „Sollten wir uns jetzt auf das Schlimmste vorbereiten?“ Wir fingen an zu weinen, hofften, dass es doch noch mit einer anderen Diagnose enden würde und klammerten uns an dieses Wörtchen ‚vorläufig‘, aber wir wussten schon, dass wir unser Urteil erhalten hatten. Zu Hause haben wir eine Suche im Internet gestartet. Es war, als ob eine F16 durch unser Leben flog. Die zwei nächsten Tage waren ein Tsunami der Trauer. Wir setzten unseren Sohn und unsere Tochter in Kenntnis und es war besonders emotional, auch wenn wir zu diesem Zeitpunkt noch keine Bestätigung der Diagnose hatten.

Unser Urteil folgte am 20. April. Es war in der Tat das „Worst-Case“-Szenario ALS. Ich war eigentlich schon darauf vorbereitet, aber wider besseres Wissen hatte ich immer wieder darauf gehofft. „Lass es denn ein Hirntumor sein“ dachte ich sogar völlig irrational. Wieso? Weil das meistens noch behandelt werden kann.

VERABSCHIEDUNG GIBT ES SCHON

Nora Tilley

Seitdem erweitere ich meine Grenzen immer mehr. Ich konzentriere mich auf was ich noch immer kann, und nicht auf was ich nicht mehr kann, und ich bin gezwungen, mich von einigen Hobbys zu verabschieden. Verabschiedung gibt es schon, und nicht nur beim Tod. 

Die erste Sache, die ausgefallen ist, war das Golf. In Spanien spielte ich im Januar noch 18 Holen, aber einige Monate später konnte ich meinen Golfclub nicht mehr festhalten. Ich geriet aus dem Gleichgewicht und landete machtlos im Gras. 

Ich machte weiter Keramik, bis ich mit den Fingern durch den Topf stach. Das war ein schwieriger Tag. Inzwischen habe ich etwas anderes gefunden. Ich sitze nicht mehr an der Töpferscheibe, aber ich mache jedoch jeden Tag noch ein Stück und experimentiere mit Glasuren. Ein Morgenritual, solange es noch möglich ist. Als ich das letzte Mal zum Töpferkurs bei Bie Van Gucht in der Lazaruskapelle in Rumst war, hatte ich meine Diagnose bereits erhalten und meine Freundinnen waren sich dessen bewusst. Ich ging in den Raum hinein und stützte mich auf meinen Spazierstock. Der Raum verstummte. Alle hielten den Atem an, standen gerade und kamen, um mich zu kuscheln, oft mit Tränen in den Augen. Ein wunderbares Erlebnis, ein magischer Moment, auch wenn es ein Abschied war. Wir waren alle erleichtert, fingen an zu plaudern und zu lachen. Diese Erfahrung hat mir Mut gemacht.

Ich kann mein ziemlich beschäftigtes soziales Leben noch weiterführen und das gefällt mir. Ich habe keine Lust, mich zu verstecken. Deshalb möchte ich, dass jeder weiß, was mit mir los ist. Das macht es mir viel leichter wenn jeder im Bilde ist. Ich bemerke, dass viele Menschen es unglaublich schwer haben, viel schwerer als wenn ich ihnen damals sagte, dass ich Brustkrebs hatte. Jeder will es mich wissen lassen, sucht nach den richtigen Worten und kann sie nicht finden. Logischerweise gibt es für so etwas keine Worte. Das verstehe ich sehr gut. Aber ich spreche selbst sehr offen darüber. Schließlich bin ich noch immer Nora und keine Außerirdische. 

Die einzige Wahl, die ich machen konnte, habe ich gemacht. Ich habe mich entschieden, die mir verbleibende Zeit optimal zu nutzen, und das gelingt mir. Ich bin von so viel Wärme umgeben, das hätte ich nie erwartet. Was mir passiert, löst einen Schneeballeffekt bei anderen Leuten aus und holt das Beste aus den Anderen heraus. Ich komme einer Reihe von Menschen viel näher, es gibt viele, auf die ich mich ständig verlassen kann. Ich bekomme nur positive Gefühle. 

Mein Mann Jean-Pierre ist wie ein Fels in der Brandung. Er übernimmt meine Arbeit, unterstützt von Nancy, unserer unverzichtbaren Hilfe im Haushalt. Er hat auch noch einen verantwortungsvollen Job, eine fast unmögliche Kombination. Ich hoffe, dass er nicht daran zugrunde geht, aber seine Arbeit ist besonders wichtig für ihn und ist jetzt auch ein Ventil. Ich war mir schon davon bewusst, dass wir ein starkes Tandem sind, weil sich das schon gezeigt hat, wenn ich Brustkrebs gehabt habe vor zehn Jahren. Er hat jetzt auch gesagt: „Wir machen dies zusammen.“ Das ist ein großes Glück für mich. 

Wenn es nicht geht, und das passiert, dann warte ich bis meine schlechte Laune übergeht und versuche ich niemand damit zu beschäftigen. Die Leute sagen, dass Weinen förderlich ist, und das wird gelten für einen Trauerprozess. Es ist etwas, dass man loslassen muss, aber ich empfinde das auf eine andere Weise. Wenn ich anfange zu weinen, gibt es kein Ende und das macht keinen Sinn. Ich ändere nur meine Denkweise. Eine derartige depressive Verstimmung dauert meistens nicht viel länger als einen Tag. 

Irgendwie bleibt die Hoffnung bestehen. Wir haben gehört, dass es eine schnelle und eine langsame Form der Krankheit gibt, und dann gehe ich sofort davon aus, dass ich die langsame Form habe. Ich bin mir jedoch nicht sicher, weil niemand das vorhersagen kann. Der eine Professor sagte: „Es geht sehr schnell.“ Der andere: „Durchschnittlich.“ Es kann sein, dass es innerhalb eines Jahres zu Ende ist mit mir, aber es ist ebenfalls auch möglich, dass die Krankheit sich stabilisiert. Ich habe jetzt das Gefühl, dass meine Beine gleich bleiben. Trotzdem, meine jüngste Enkelin Louise, sieben Jahre alt, sagt, dass es immer schlimmer wird. Und Kindermund tut Wahrheit kund.

Übrigens, ich genieße meine vier Enkelkinder. Sie sind zwischen 7 und 13 Jahre alt und immer bereit, mir zu helfen, damit ich immer unterstützt werde. „Ich finde es so toll, dass ihr mir hilft“ sagte ich kürzlich. „Daran wirst du später oft denken.“ Daraufhin sagte Louise: „Später? Ich hoffe, du bist dann noch am Leben, aber ich befürchte es.“ Trotz allem muss ich darüber lachen. Die meistens stille Louise macht Nägel mit Köpfen wenn sie mal etwas sagt.

Ich kann nicht mehr allein bleiben, und es gibt jetzt ein Stellenwechseln. Ich lasse mich von allen verwöhnen, obwohl ich es umgekehrt viel angenehmer fand. 

Ich plane nur noch für die sehr nahe Zukunft. Ich freue mich auf die Hochzeit meines Sohnes im September, auf ein Wochenende mit Freunden in Frankreich und auf eine Reise mit sechs Freundinnen, die auch Brustkrebs gehabt haben, genau wie ich. 

MEINE LETZTE ROLLE

Nora TilleyEs gab noch kein Problem, als Jan Verheyen mich damals für den neuen Film von ‚De Collega‘s‘ kontaktierte. Ich war froh, die Rolle der Typistin Carolien Van Kersebeke wieder mal zu übernehmen, aber als sich die Aufnahmen näherten und ich das Szenario las, stellte sich heraus, dass ich in einen Jacuzzi hinein musste, und das konnte ich nicht mehr. Jan hat darauf die Szene gestrichen, aber so blieb von meiner Rolle nicht viel übrig. Als ich dann hörte, dass ich ALS hatte, wollte ich nicht mehr mitmachen. Jan wurde von der Nachricht überwältigt, aber bat mich, noch einmal über diese Rolle nachzudenken. Nach einer Woche rief ich ihn an und habe ihm gesagt, er könne sich auf mich verlassen. 

Letztendlich war der letzte Aufnahmetag am 12. Juni sehr angenehm, obwohl jeder von uns Kenntnis von meinem Zustand hatte. Als meine Arbeit beendet war, verabschiedete ich mich vom Team. „Dies war Noras letzter Drehtag“ sagte Jan, und erst dann begriff er, was diese Worte bedeuteten. Es traf mich und alle andere wie ein Schlag in den Magen. Ich hatte mich den ganzen Tag gut gehalten, aber dann kullerten die Tränen mir über die Wangen. 

Ich bin immerhin froh, dass ich das noch geschafft habe. Jetzt würde mir das nicht mehr gelingen. Ich kann mich nur mit meinem Rollator und meinem Elektromobil bewegen, und auch mein Energieniveau ist viel niedriger. Ich sehe diese Rolle jetzt als meinen Abschied vom Bildschirm, und das fühlt sich gut an. Auf diese Weise endet es dort, wo es angefangen hat: bei ‚De Collega‘s‘. 

„Ich bin 66 Jahre alt und zu alt für eine Prämie.“

„Unser Haus muss renoviert werden, weil ich die Treppe nicht mehr hochkommen kann“ sagt Nora Tilley. „Unten muss ein Badezimmer und ein Schlafzimmer eingerichtet werden, und die Türöffnungen sollten verbreitert werden, um die Durchfahrt mit einem Rollstuhl zu ermöglichen. Ein teures Unternehmen, für das die Regierung eine Intervention anbietet, aber ich bin dazu nicht berechtigt. Ich bin 66 Jahre alt und damit ein Jahr zu alt für eine Prämie. Eine Schande, das ist eine Diskriminierung aufgrund des Alters.“

„Das stimmt“ sagt Danny Reviers, Vorsitzender der ALS Liga. „Bevor Sie 65 Jahre alt werden, sollten Sie ein Aktenzeichen bei der Flämischen Agentur für Personen mit Behinderungen (VAPH) haben, sonst wird nichts zurückerstattet. Personen über 65, die behindert werden, erhalten keine Intervention für Hilfsmittel oder Anpassungen an das Zuhause, unabhängig davon, wie notwendig sie sind. Vor einigen Jahren hat der Behindertensektor beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg dazu Klage gegen den belgischen Staat erhoben. Vergeblich, weil die Regierung anscheinend über so etwas ungestraft entscheiden kann.

„Mit unserer GoE haben wir daher vor mehr als zwanzig Jahren einen Ausleihdienst für Hilfsmittel gegründet. ALS ist eine Erkrankung, die oft später im Leben auftritt, auch nach dem Alter von 65 Jahren. ALS-Patienten (pALS) verleihen wir kostenlos Rollstühle, Sprachgeräte, angepasste Betriebssysteme und andere Hilfsmittel. Wir können leider keine Wohnungen oder Autos modifizieren, weil wir eine derartige Investition nicht zurückerhalten können. Die ALS Liga ist eine nicht subventionierte Freiwilligenarbeit, wir erhalten nur Unterstützung von Organisationen und Sponsoring. Wir haben also immer Angst, dass Geldgeber ausfallen werden, während, besonders für weitere Forschungen, es noch immer noch einen enormen Geldmangel gibt. 

„Wir haben gelernt, mit wenigen finanziellen Mitteln kreativ zu sein und fanden es eine Geldverschwendung, dass die Regierung Rollstühle für alle Behinderten gekauft hat. Wenn der Patient stirbt, bleibt der Rollstuhl Eigentum der Erben. Bei einem Ausleihdienst, wie wir machen, werden die Rollstühle später zurückgegeben und können sie nach einer Reinigung wiederverwendet werden. Dies ist viel billiger und auf diese Weise kann man auch Personen über 65 einen Rollstuhl verleihen“ sagten wir. „Durch unseres Lobbying haben wir jetzt erreicht, dass ab dem 1. Januar 2019 jeder mit einer schnell degenerativen Krankheit, unabhängig vom Alter, einen Rollstuhl von der Regierung bekommen kann. Wir sehen diese neue Politik als einen ersten Schritt in die richtige Richtung und hoffen, dass auch die Sprachgeräte und Betriebssysteme für Personen über 65 weiterhin auch in Ordnung kommen wird. Und dann sprechen wir noch nicht von einer Intervention zu Anpassung der Wohnung. Wir können den ALS-Patienten heutzutage noch nicht medizinisch helfen, aber wir können ihre Lebensqualität optimieren.“

 

Übersetzung: Ibe Deturck

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