Dudley Clendinen

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Mein Freund Lou

In der New York Times erschien im Juni ein Artikel verfasst von Dudley Clendinen, nationaler Korrespondent und Journalist bei der Times. Er leidet an ALS, was wir ALS nennen. Er entwickelt seine Geschichte wie folgt. 

Ich habe ausgezeichnete Freunde. Letztes Jahr verreiste ich mit einer von ihnen bis nach Istanbul. Ein weiterer besorgte mir eine Schachtel hausgemachter Pralinen. Fünfzehn weitere hielten zwei lukrative, Pre-Posthume Wachen für mich. Verschiedene erstellten einen angesehenen Scheck. Zwei schickten mir eine Schachtel mit allen Kantaten von Bach. Und einer aus Texas legte seine Hand auf meine magere Schulter und blickte immer zum Boden auf dem wir standen. Er war ausdrücklich hinübergeflogen um mich zu sehen.

“Sollen wir für dich einen Revolver kaufen?” erkundigte er sich in aller Ruhe. Er wollte mir damit erschießen, “Ja, lieber Freund,” sagte ich mit einem Lächeln, “tun wir das.” Wegen dieser Behauptung liebte ich ihn. Ich liebe sie alle. Ich fühle mich besonders glücklich mit meiner Familie und Freunde, mit meiner Tochter und mit meiner Arbeit. Aber ich leide an Amyotrophische Lateralsklerose, ALS also.

Manchmal nenne ich die Krankheit Lou, zu Ehren von ihm und weil es weniger bedrohlich fühlt. Aber es ist keine angenehme Krankheit. Die Nerven und Muskeln Fängen an zu klopfen, ziehen zusammen und sterben allmählich. An der Außenseite sieht es danach aus, ob Piano gespielt wird auf meine subkutane Muskeln. An der Innenseite fühlt es so, als kämen beängstigte Schmetterlinge zum Ausbruch. Es fängt an in den Händen und Füssen und nagt dann weiterhin oder du fühlst es zuerst in den Mund-, Kehle-, Brust- und den Diaphragma-Muskeln von wo es sich weiterhin verbreitet. Diese zweite Form nennt man die bulbäre und an dieser leide ich. Wir werden nicht lange leben weil unsere Möglichkeiten zum Atmen schnell betroffen werden und es immer schlimmer wird. Momentan bin ich 66 Jahre alt und sehe ziemlich gut aus. Ich wiege 10 Kilo weniger. Mein Gesicht ist schlanker geworden und ich werde manchmal angesprochen mit “Hallo, forscher Kerl!”, was ich gerne höre. Ich besehe es als eine kosmetische Phase aber das Lachen fällt mir schwer ebenso wie das kauen. Ich bin kurzatmig, muss des Öfteren nach Atem schnappen. Ich klinge wie ein keuchender, lispelnder Betrunkener. Ganz schön ärgerlich für jemand der je ein Alkoholiker war. 

Es gibt keine wirksame Therapie. Keine einzige Behandlung. Ein Medikament. Rilutek, kann für einige Monate ein Unterschied ausmachen. Dies kostet ungefähr $ 14.000 pro Jahr. Ich finde, dass es nicht lohnt. Falls ich das Medikament die ganze Zeit über einnehmen würde, würde ich mit jeder zur Verfügung stehenden menschlichen, medizinischen, technologischen und liebevollen Unterstützung höchstens 5, 8 oder 12 Jahre länger leben. Ich würde bei vollem Bewusstsein weiterleben wie eine dumme, tote, inkontinente Mumie, ein blasser Schimmer von derjenigen Person, die ich vorher war. Am Leben gehalten mittels Sondenernährung, atmend und von Geräten sondiert. Nein, vielen Dank. Ich möchte niemandem zur Last sein. Sogar nicht für die Hälfte von “Lou”. Ich finde es wichtig, dies so festzulegen. In diesem Land sind wir obsessive bekümmert um Nahrung, mit dem was wir trinken und wie wir uns kleiden, mit der Suche nach einer Arbeit sowie eines Partners. Mit Sex und mit Kindern. Mit der Art, wie wir leben. Aber wir sprechen nicht darüber, wie wir sterben werden. Wir tun so, als wäre der Tot nicht eine der größten, umfassendsten Herausforderungen, die das Leben ausmachen. Glauben Sie mir freilich, dies ist wohl der Fall. Dies ist keine düstere Vision. Damit wir frei sein können, müssen wir letztendlich in der Lage sein, umzugehen mit Ärzten und Maschinen, Versicherungssystemen, Familie und Freunde sowie Religion.

Und das ist der Punkt. Hier geht es nicht um eine bestimmte Krankheit oder um den Tod, sondern um das Leben, wenn Du weißt, dass nicht viel mehr übrigbleibt. Dies ist der gruselige Segen von Lou. Du kannst dem nicht entkommen und nichts dagegen unternehmen, was befreiend wirkt. 

Am Mai 2010 fing ich an mich undeutlich auszudrücken. Wenn der Neurologe mir im November die Diagnose mitteilte, drückte er mir die Hand, lächelte ein wenig ironisch und hinterließ mir an einem kalten, leeren, grauen Parkplatz. 

Es war dämmrig. Er hatte meine Vermutung bestätigt, nachdem ich sechs Monate lang, auf der Suche nach einer Antwort, Spezialisten konsultiert hatte. Aber Argwohn und Sicherheit sind zwei unterschiedliche Sachen. Als ich da stand, realisierte ich mich plötzlich, dass ich sterben würde. “Dazu bin ich nicht bereit”, dachte ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich dort stehen bleiben sollte oder im Wagen einsteigen und wegfahren. Wohin? Warum? In diesem nebligen Zustand verblieb ich fünf Minuten und dann erinnerte ich mich, dass etwas auf meinem Merkbuch stand. An diesem Abend sollte ich bei einem Diner in Washington zugegen sein, wo ich einen früheren Freund begegnen sollte, ein Gelehrter und Autor, der sich in eine Depression befand. Wir hatten des Öfteren über ihn geredet. Selbstverständlich. Aber an diesem Abend würde es sich um etwas anderem handeln, wir würden über Lou sprechen.

Am kommenden Morgen stellte ich fest, dass ich ein angenehmes Leben geführt hatte. Schon seit zweiundzwanzig Jahren besuchte ich Therapeuten sowie 12 Schritte Besprechungen. Sie waren mir bei meiner Alkoholsucht behilflich, sowie mit meiner Andersartigkeit. Sie lernten mir das Leben ohne Alkohol und in einer wohltuenden Art zu führen. Sie lernten mir, dass ich mich selber sein konnte und dass es im Leben um mehr dreht als nur das eine. Ich erfuhr, wie ich mich als Vater verhalten sollte. Und besonders wie ich alles schrittweise erreichen konnte. Auch : grundsätzlich stehe ich bereit. Aus meiner Hinsicht erweist es sich einfacher als für die anderen. Weniger hart als für Whitney, meine dreißigjährige Tochter, und für meine Familie und Freunde. Ich weiß dies aus Erfahrung, Ich war gut befreundet mit meiner alten Nichte Florence, welche terminal krank war. Sie bevorzugte zu sterben statt weiterzumachen. Gesetzlich war ich verantwortlich für zwei Tanten. Bessie und Carolyn, und für meine Mutter, die Jahre zuvor eines natürlichen Todes gestorben war, trotz der ärztlichen Technologie, den gutgemeinten Systemen und der liebevollen, fürsorglichen Hände, die sie umringten. Ich verbrachte über hundert Tage beim Bett meiner Mutter, klammerte ihre Hände fest, versuchte ihr komische Geschichten zu erzählen. Sie sollte gebadet werden, erfrischt und ernährt und während den letzten Jahren sah sie mich, ihr einziger Sohn, an wie sie sich nach einer vorübergleitenden Wolke umsehen würde. Ich möchte nicht, dass Whitney derartiges zustoßt - niemanden der mich liebhat. Weitere Verzögerung würde eine riesige Verschwendung von Geld und Liebe sein. 

Falls ich mich für eine Tracheotomie entscheide die ich in den bevorstehenden Monaten benötige, damit ich nicht ersticke und womöglich an Pneumonie sterbe, werden mir das Beatmungsgerät und die notwendige Unterstützung bald eine halbe Million Dollar jährlich kosten. Von woher letztere stammt, ist mir unbekannt.

Ich bevorzuge also zu sterben. Ich respektiere den Wunsch von Menschen, die so lange wie möglich am Leben bleiben wollen. Aber ich verlange den gleichen Respekt für diejenige, die auf eine rationelle Art und Weise sich dafür entscheiden, es nicht zu machen. Ich habe meine Hausaufgaben erledigt. Mein Plan steht fest. Falls ich Pneumonie bekomme, lass ich mich auslöschen. Falls nicht, gibt es weitere Verfahren. Ich muss diese nur vollziehen, solange ich meine Hände verwenden kann : mit einem Gewehr, Drogen, einem scharfen Messer, einer Plastiktüte, ein schnelles Auto, legale Drogen, Oleandertee, Kohlenmonoxid oder Helium. Mit letzterem würde ich sogar eine sehr komisch klingende Stimme daran übrighalten. 

Ich habe das Verfahren entdeckt. Nicht mit einem Gewehr, sondern in aller Ruhe und lautlos. Diese Wissenschaft macht mich ruhig. Ungesundes Essen gehört nicht länger zu meinen Sorgen, ebenso wie ob ich ausreichend Geld besitzen werde, falls ich alt werden sollte. Letzteres ist nicht der Fall. 

Ich führe ein sehr angenehmes Leben. Ich bin der Vater einer wundervollen Tochter, die ganz nahe bei mir lebt, das größte Geschenk in meinem Leben. Ich weiß nicht, ob sie damit einverstanden ist, aber sie versteht mich. Ich hasse es sie zu hinterlassen. Aber das einzige was ich tun kann ist ihr ein Vater zu besorgen, der lebenskräftig bis ans Ende war, der Bescheid wusste wann seine Zeit gekommen war. Was ansonsten? Ich schreibe viele Briefe und Notizen, nehme für das örtliche Radio Gespräche über diese Zeit auf, die ich das Gute kurze Leben nenne. Ich möchte den Tot verhandelbar machen. Ich habe einen enormen Rückstand mit meinen Notizen, aber die Menschen um mich herum sind unglaublich geduldig und freundlich. Und ich erhalte Einladungen im Überfluss. Letzten Monat bracht ein alter Freund mir eine Aufnahme des schönsten Konzertes dass er je gehört hatte, von Leonard Cohen, live in London, vor drei Jahren. Es handelt sich um mächtige Musik, die dich nicht gehen lasst, gesungen von einem Dichter und Sänger, dessen Leben hart war, erfüllt von Problemen, aber liebevoll wie ein alter Baum.

Das Lied dass mich am meisten berührte war “Dance me to the End of Love”. So fühle ich mich im Moment. Ich tanze, drehe rund und fühle mich glücklich beim letzten Schlag des Lebens dass ich liebe. Wenn die Musik aufhört - wenn ich meine Fliege nicht mehr stricken kann, eine schön Geschichte erzählen, mit meinem Hund spazieren gehen, sprechen mit Whitney, jemand Besonderes küssen, oder die Regel schreiben, wie ich es jetzt mache - dann weiß ich dass das Leben vorüber ist. 

Meine Zeit ist gekommen. 

 

Übersetzung: Eric Kisbulck

Quelle : Newsletter 153 – Juli, August, September 2011

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